Brief an einen Karateka

Vorwort: Ein Schüler stellte im Anschluss eines Gespräches über Literatur zum  Karate ergänzenden Selbststudium folgende Frage: Du hast mir verschiedene Bücher zum Lesen empfohlen. Jetzt mal einen Rat, in welcher Reihenfolge soll ich lesen?

Antwort: Gute Frage. Empfohlen habe ich dir die Reihenfolge des Lesens um die Bushidozeit in Japan für unsere (westliche) Welt erfassbar zu machen und ein Verständnis für das Karate zu entwickeln. Kannst du damit etwas anfangen? Sicher nur bedingt. Deine Antwort könnte etwa so lauten: „Sag mir doch einfach, welches Buch ich zuerst lesen soll!“

  1. Wenn vorhanden:“Taiko“. (wie auch immer geschrieben; das ist eine Frage der Übersetzung. wobei wir wieder bei den Irrtümern des Dialoges Ost/West bzw. Neuzeit/Altertum sind). Im Taiko wird die Geschichte eines einfachen Landsamurai beschrieben, der bis zum zweiten Mann (hinter dem Kaiser) im Staat, dem Shogun, aufsteigt. Du erfährst beim Lesen Hintergründe zur japanischen Gesellschaft des Mittelalters; über die zeitliche Folge der Dynastien und damit deren Entwicklung. Anschließend verstehst du, falls du so denkst wie ich, die anderen Bücher besser.

2. Mein vorangegangener Text (siehe oben) stellt in etwa die Antwort eines Meisters des Zen (Zen als Ursprung aller japanischer Kampfkünste, egal, woher sie die Japaner für sich adaptiert haben) auf die Frage eines Schülers dar. (Nur zur Klarstellung: Ich bin kein Meister, vielleicht auf dem Weg dahin. Die Antwort ist mein Versuch, dir Denkanstöße zu geben. Dein Gegenüber wird dir in den seltensten Fällen die Antwort geben, die du eigentlich erwarten würdest.) 

3. Fehlt in deiner Aufzählung das Buch über die Katze und andere Zen-Geschichten. Hier spricht ein Europäer (Graf Dürckheim) über das für die westliche Welt Unfassbare im Kontakt mit Zen. Es scheint eine mystische Welt ohne Sinn und Verstand zu sein. Demnach großer Unsinn. Das Problem: So idiotisch die Zentexte auch sind, und das sind sie aus unserer Auffassung über die Welt und die menschliche Gesellschaft hinaus: Hast du das Schwarze (Dreck) unter den Fingernägeln (Zen) begriffen, verfügst du über einen unschätzbaren Wettbewerbsvorteil gegenüber deinen Mitkonkurrenten in der Leistungsgesellschaft. Denn diese kommen mit dir nicht klar und umgekehrt. Wie entstanden denn möglicherweise die Zen-Texte? Denkfaule Schüler wollten Antworten auf dem Tablett serviert bekommen und ihren Meister beim Schlafen stören!

4. Nun wird das ganze Geschreibsel zur Karate-Lehreinheit: Frage deinen Trainer niemals ein zweites Mal, wie eine Technik geht, bevor du nicht 300-500 mal die erste Antwort geübt hast. (Natürlich kannst und sollst du fragen. Wundere dich nur nicht über die Antworten. Deshalb habe ich nur wenige, aber gute Schüler.)

5. Mach doch im Heimtraining, den ersten Schritt. Übe eine Technik, die dir gerade einfällt, zuhause 10.000 mal rechts und 10.000 mal links. Du kommst in die Absichtslosigkeit und wunderst dich nach einiger Zeit, dass mit dem Karate nicht verwandte Dinge dir plötzlich leichter fallen oder mit weniger Energieaufwand gelingen. Ach so, wir waren ja bei deinen Büchern. Beginne doch einfach mit dem Lesen; egal, welches Buch. Ungefähr nach 3 1/2 Jahren (im Karate etwa 5000 Techniken) stellst du fest, dass du immer häufiger auch mal ein anderes Buch zur Hand nimmst. Dann wirst du erkennen, dass du mich zur Beantwortung deiner Frage nicht brauchst. Du gibst nämlich einem deiner Schüler (das ist in meinen Zukunftsfantasien deine Entwicklung-Trainer von eigenen Gruppen) den Hinweis: „Wenn du die Möglichkeit hast, erst Taiko zu lesen, verstehst du die anderen Bücher leichter. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.“ Deine Erfahrungen werden andere sein.

6. Zum Schluss noch einmal die 8 Worte deiner Frage: „Jetzt mal eine Buchempfehlung-welches war das Erste?“ 

Was hat der Flügelschlag eines Schmetterlings im 15. Jahrhundert mit dem Vulkanausbruch im 21. Jahrhundert zu tun? Dazu kurz die Chaostheorie studieren.

Ich wünsche dir viele Antworten.

Willfried Achilles

PS. Meinem ersten Trainer im Judo (Ich kenne noch seinen Namen, Jürgen Siebert, einfacher Maurer, junger Mann) stellten wir die Frage: „Sag mal, warum machen Sie das alles. Sie trainieren uns, begleiten uns zu Wettkämpfen, sind immer für uns da?“ Seine Antwort: „Als ich so alt war, wie ihr jetzt, hatte ich einen Trainer, dem stellten wir die gleiche Frage. Seine Antwort war: Ich hatte in euerm Alter einen Trainer, der erwartete von uns, dass wir das, was er uns beibrachte, weitergeben. Das ist die Geschichte der Menschheit.“